Fokus Interview
Sibylla Amstutz, Professorin für Innenarchitektur an der HSLU, plädiert für weniger Flächenverbrauch und mehr Qualität von Innenräumen.
Interview: Dietmar Knopf, Fotos: Urs Bigler

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass wir rund 90 Prozent unserer Lebenszeit in Innenräumen verbringen. Müsste die Gestaltung unserer Räume angesichts dieser Zahl nicht höher gewichtet sein?

Diese Frage besteht für mich aus zwei Aspekten. Nach meiner Meinung ist die breite Masse wenig sensibilisiert für die Auswirkungen gestalterischer Aspekte auf die Lebensqualität. Dieses fehlende Wissen zeigt sich auch bei der Gestaltung unserer Innenräume. Eine Ausnahme davon sind Büros, in vielen Firmen wird mit sportlichem Ehrgeiz darum gerungen, wer die besten Büroräume anbieten kann. Im Wirtschaftsalltag ist die Innenraumgestaltung ein wichtiger Teil der Corporate Identity. Wo ich kaum gute neue Konzepte sehe, ist im Mietwohnungsbau. Deshalb ist es für mich umso wichtiger, dass wir weiterforschen und unseren Studierenden vermitteln, was gelungene Innenarchitektur ausmacht.

Auch gesellschaftliche Veränderungen – der Anteil von Familienhaushalten liegt heute bei rund 30% – führen dazu, dass monofunktionale Nutzungen von Räumen seltener werden. Was bedeutet das für Ihre Berufsgruppe?

Laut Bundesamt für Statistik repräsentiert die klassische Familie heute nicht mehr die Mehrheit der Haushalte. Darum ist für mich unbegreiflich, warum weiterhin fast alle Wohnungen in der klassischen Zimmerstruktur gebaut werden, obwohl wir für ein Abbild der pluralistischen Gesellschaft nutzungsneutrale und ähnlich grosse Räume bräuchten. Wir sollten es den Mieterinnen und Mietern überlassen, in welcher Form sie sich ihre Wohnungen aneignen wollen.

Wie sollte diese Neutralität der Räume baulich umgesetzt werden?

Die Erfahrungen zeigen, dass mobile Elemente, wie beispielsweise flexible Trennwände, von ­Eigentümern und Mieterinnen kaum genutzt werden. Deshalb scheint es mir richtiger zu sein, die Raumdefinitionen den Nutzenden zu überlassen. Dies erklärt auch, warum die Häuser aus der Gründerzeit weiterhin so beliebt sind: Die Zimmer in diesen Wohnungen sind alle ähnlich gross.

Eine zunehmende Multifunktionalität von Räumen kann zu einem Verlust ihrer Identität führen. Wie finden Innenarchitekten die richtige Balance zwischen Neutralität und vorgegebenen Raumdefinitionen?

Hier würde ich private Wohnräume und öffentliche Räume unterscheiden wollen. In privaten Räumen sorgen die Nutzenden mithilfe der Möblierung und anderen Gestaltungselementen, zum Beispiel mit farbigen Wänden oder Vorhängen, für ein individuelles Raumgefühl. Vorher müssen wir Planenden mit werthaltigen Materialien eine gute Atmosphäre ermöglichen. Ganz anders sieht es für mich in öffentlichen Räumen aus. Hier gilt es eine Atmosphäre zu schaffen, die nicht beliebig ist und auch nicht an den Charme von Mehrzweckhallen erinnert.

Lesen Sie das ganze Interview mit Marco Feusi in der Immobilia, Dezember 2020.