Bau & Haus
Das anhaltend starke Bevölkerungswachstum ist besonders für die Städte und ihre Agglomerationen eine grosse Herausforderung. Verdichtung nach innen und qualitatives Wachstum stehen hauptsächlich im Vordergrund.
Von Angelo Zoppet-Betschart
Jabee Tower Dübendorf: ein Hauch Dubai in der Agglomeration Zürich. Bild: Goran Potkonjak / sattlerpartner

Folgen der Bevölkerungszunahme

Die Schweizer Bevölkerung wächst kontinuierlich, von 7,46 Millionen im Jahr 2005 auf 8,6 Millionen Ende 2019. Dieses Wachstum betrifft vor allem die Städte und ihre Agglomerationen. Mittlerweile wohnen über 80 % der Bevölkerung in städtischen Ballungsräumen und deren Einflussgebieten. Ein Ende ist nicht in Sicht: Aktuelle Prognosen besagen, dass allein der Kanton Zürich innerhalb einer Generation um weitere 20 % wächst. Diese Entwicklung macht nicht nur Freude, sie bereitet vielen ebenso Sorgen. Gemäss Definition von Volkswirtschaftern ist die anhaltende Inanspruchnahme von Landwirtschaftsland für Wohn- und Gewerbezwecke ein Indikator für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlichen Wohlstand. Sie hat jedoch auch ökologische und soziale Folgen. Wie etwa die Zerstückelung des Landschaftsraums, die Belastung von Mensch und Natur mit Verkehrs- und Mobilitätsimmissionen und die soziale Entmischung mit all ihren Problemen.

Seit dem Siegeszug moderner Verkehrsmittel und Transportsysteme im 19. Jahrhundert breiten sich nicht nur in Europa Städte kontinuierlich ins Umland aus. Landwirtschaftsgebiete und Naturlandschaften wurden grossräumig erschlossen. Es entstanden Wohn- und Gewerbegebiete sowie Fabrik- und Produktionsanlagen. Später kamen Logistikparks, Freizeitlandschaften und vieles mehr hinzu. Daher ist es kaum erstaunlich, dass sich vor allem in den letzten Dezennien die Forderung nach Beschränkung der Siedlungsflächen und der Umlenkung des Wachstums in bereits erschlossene und besiedelte Gebiete immer lauter wurden. Zudem hat in jüngster Zeit die Beziehung zwischen Siedlungsentwicklung und Verkehrsaufkommen grössere Aufmerksamkeit und Bedeutung erhalten. Kompakte Siedlungsstrukturen sollen einer weiteren Ausbreitung der Städte und ihrer Agglomerationen ins Umland entgegenwirken. Es ist feststellbar, dass vielerorts das Potential zur Umnutzung innerstädtischer Industrie- und Gewerbeareale langsam ausgeschöpft ist. So geraten auch bestehende Wohnquartiere unter Druck.

Auch Einfamilienhäuser gehören zur Stadt

Trotz den veränderten raumplanerischen, gesetzlichen Vorgaben, trotz Forderungen von Planern und Fachleuten nach Siedlungsverdichtung entstehen nach wie vor viele neue Einfamilienhausquartiere. Die beiden Architekten und ZHAW-Dozenten Stefan Kurath und Tom Weiss haben sich in einer Studie damit befasst. Das Einfamilienhaus ist in Verruf geraten, weil es viel Fläche in Anspruch nimmt. Als nachhaltig gelten hingegen heute verdichtete Siedlungen. Dazu Stefan Kurath: «Nachhaltigkeit ist mittlerweile zu einem inhaltslosen Label geworden. Es ging uns nicht zuletzt darum, der Diskussion um diesen Begriff neue Impulse zu verleihen.» Natürlich sei das Einfamilienhaus nicht nachhaltig, wenn man einen absoluten Massstab anlege. Städtebaulich alles gleich zu schalten, werde wiederum den gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht gerecht. Es ist unbestritten, dass nach wie vor viele Leute das Bedürfnis haben, in einem eigenen Haus zu leben.

Auf die Frage, warum eine sogenannt nachhaltige Siedlungsentwicklung oft mit Verdichtung gleichgesetzt werde, sagt Tom Weiss: «Wenn man bauliche Dichte pauschal als Lösung postuliert, ignoriert man die Qualitäten und Chancen des Typus Einfamilienhaus. Wir haben festgestellt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, um das Einfamilienhaus nachhaltiger zu machen. Auch Verdichtung ist ein Mittel dazu.» Und Stefan Kurath ergänzt: «Wir sind überzeugt, dass die Nachhaltigkeit einer Siedlung nur unter Berücksichtigung der konkreten Situation vor Ort beurteilt werden kann. Die Gleichsetzung von räumlicher Dichte und Nachhaltigkeit ist ideologisch geprägt.» Professor Kurath stellt fest, dass in 80 Jahren Planungsgeschichte immer versucht wurde, die organisierte, dichte Stadt als Gegenmodell durchzusetzen. Das gelang aber nur in wenigen Fällen. Zur Frage, warum denn die Planer mit ihren Ideen an der Wirklichkeit gescheitert seien, meint Stefan Kurath, dass die Planungstheorie es verpasst habe, als Erstes nach den treibenden Kräften einer Entwicklung zu fragen und erst dann nach Lösungen zu suchen.

Zukunft: Stadt der kurzen Wege

Professor Kurath macht sich auch intensiv Gedanken über die Lebensqualität in den Städten. Er war Projektleiter des Forschungsprojektes mit dem Titel «Kriterien und Strategien zur Verdichtung von Siedlungsstrukturen der Nachkriegszeit», das 2016 in einem 600 Seiten umfassenden Bericht endete. Die innere Verdichtung von Stadtquartieren und Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit, insbesondere von 1945 bis 1970, stellt auch die Denkmalpflege vor grosse und neue Herausforderungen. Neben den Bauten selbst sind es vor allem die städtebaulichen Anlagen, Freiraumsysteme und Erschliessungskonzepte, welche die Lebensweisen und das Ideengut dieser Zeit anschaulich verkörpern. Diese Strukturen sind vielerorts im Zuge unkoordinierter Verdichtungs- und Erneuerungsoperationen stark gefährdet. Mit der Aufarbeitung und Bewertung erster exemplarischer Praxisbeispiele einer Verdichtung von Siedlungen der Nachkriegszeit schafft das Forschungsprojekt wichtige Grundlagen für den zukünftigen Umgang mit Siedlungen und Quartieren der vergangenen 50 bis 75 Jahre. Viele Quartiere und Siedlungen sind wertvolle Zeugen sowohl für zeittypische, städtebauliche Dispositionen als auch für Erschliessungssysteme und Freiraumkonzepte.

Die Stadt der kurzen Wege für die Alltagsversorgung, für Kultur, Freizeit und Arbeit am selben Ort ist heute wieder gefragt. Das führt unweigerlich zu Fragen: Wie können Städte qualitativ wachsen, bezahlbare Wohnungen und Gewerberaum geschaffen sowie Grünanlagen bewahrt werden? Von den 1960er bis in die 1990er­Jahre gab es nicht nur in der Schweiz eine regelrechte Stadtflucht. Die Stadt hatte keinen guten Ruf. Zur Trendwende sagt Professor Stefan Kurath: «Heute liegt die Stadt wieder im Trend, insbesondere bei Studierenden, jungen, gut gebildeten Personen. Aber auch bei Senioren, die aus ihren zu gross gewordenen Einfamilienhaussiedlungen zurück in die Stadt ziehen.» So soll Zürich 2040 eine Stadt mit 520 000 Einwohnern werden – 100 000 mehr als heute. Zu einer solchen Stadtentwicklung meint der zuständige Stadtrat André Odermatt, dass es dazu in erster Linie eine sorgfältige Koordination braucht. Die baulichen Reserven für ein solches Wachstum seien grundsätzlich in der gültigen Bau- und Zonenordnung vorhanden. Nicht zuletzt sei sicherzustellen, dass das Wachstum und die damit einhergehende bauliche Verdichtung vermehrt dort stattfinde, wo es aus planerischer Sicht besonders sinnvoll sei. Dazu Planer Stefan Kurath: «Wenn wir die Stadt Zürich mit der Innenstadt von Genf, Wien oder München vergleichen, sehen wir, wie viel Verdichtungspotenzial in meiner Wohnstadt Zürich brachliegt.»