Immobilienwirtschaft
Knappheit und hohe Preise haben dazu geführt, dass die Ballungszentren bestimmte soziale Schichten an Landgemeinden verlieren. Die Pandemie und die Verunsicherung vieler Menschen scheinen die Stadtflucht weiter zu verstärken. Experten erwarten, dass sich dieser Trend 2021 fortsetzt.
Von: Jürg Zulliger

Städte bleiben attraktiv

Der Lockdown im letzten Frühling dürfte noch lange nachwirken. Plötzlich sehnten sich viele Leute nach Sicherheit, Distanz, Natur und Freiheit. Das beschauliche Leben auf dem Land und auf dem Dorf erwies sich als verheissungsvoller Gegenentwurf zum stressigen Leben in den Wirtschafts- und Ballungszentren. Und die Pandemie- und Krisensituation ist noch nicht ausgestanden. Enge Platzverhältnisse in Büros, Gedränge beim Einkaufen oder schon morgens an der S-Bahn-Station machen viele Leute nervös.

Folgt jetzt eine neue Welle der Stadtflucht? Der renommierte Kulturgeograf und Alpenforscher Werner Bätzing hat die komplexe Beziehung zwischen Stadt und Land in seinem Buch «Landleben» detailliert aufgearbeitet. Über Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte zeigen sich typische Wellenbewegungen. Einmal überwiegt die Anziehungskraft der Städte und Wirtschaftszentren, dann folgt wieder eine Phase der Stadtflucht. «Krisen wie Kriege oder die Pest fördern das Bild der ländlichen Idylle. Aber häufig nimmt diese Anziehungskraft mit dem Ende einer Krise auch schnell wieder ab», schreibt Bätzing. Für ihn liegt die These auf der Hand: «Nur wenn Corona noch zwei oder drei Jahre bleibt, wird das Gespür für die Anfälligkeit der globalisierten Welt ein nachhaltiges Umdenken bewirken. Dann wird das Land im Vergleich zu den Zen­tren an Bedeutung gewinnen.»

Städte: Negative Binnenwanderung

Aktuelle Auswertungen des Informations- und Ausbildungszentrums für Immobilien (IAZI) zeigen, dass schon vor der Pandemie eine Abkehr von den Städten einsetzte. Fast alle grösseren Schweizer Städte sind demnach von einem negativen Saldo bei der Binnenwanderung betroffen; das gilt in sehr ähnlichem Mass für Zürich, Bern, Basel, St. Gallen, Genf, aber auch für den Raum Lausanne, Bellinzona, Chur, Biel und Neuchâtel. «Dieser Trend wird sich auch 2021 fortsetzen», so die Prognose von Donato Scognamiglio, CEO des IAZI. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass Eigenheime für den Mittelstand kaum noch erschwinglich sind.

Negativer Saldo heisst konkret, dass die Bilanz der ständigen schweizerischen Wohnbevölkerung (Zuwanderung minus Abwanderung) negativ ausfällt. Eine solche klare Tendenz sei bereits seit fünf Jahren zu beobachten, erläutert Scognamiglio. Typisch sind auch hier die Wellenbewegungen – immerhin gab es Zeiten, als man zum Beispiel in Zürich über 400 000 Bewohnerinnen und Bewohner zählte. Scognamiglio ist überzeugt, dass es jetzt klar in die andere Richtung geht: «Im Zeichen der Pandemie scheint sich die Abkehr von den Städten zu verstärken – nach dem Motto hinaus aufs Land, hinaus in die Natur.»

Andere Experten gehen allerdings davon aus, dass noch weitere Faktoren den Wohnungsmarkt der Zukunft bestimmen werden. «Die Städte werden weiterhin ihre Sogwirkung haben», betont der Zürcher Immobilienexperte Beny Ruhstaller, der sich seit vielen Jahren mit Gebiets- und Arealentwicklungen befasst. Die Nachfrage nach Wohnungen im Glattpark, im Norden direkt vor den Toren Zürichs, sei zum Beispiel ungebrochen. «Zu pauschal und falsch wäre auch die These, dass jetzt alle Leute mehr Wohnfläche nachfragen, um sich zuhause für das Homeoffice einzurichten», so Ruhstaller. Unter dem Eindruck der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in vielen Branchen rechnet er damit, dass die nächste Zeit von grosser Preissensitivität geprägt sein wird. Sowohl der Unter- als auch der Mittelstand werde sich in nächster Zeit kaum grössere Wohnungen leisten können.

Folgen für Tourismusregionen

Eine andere These lautet, dass die Menschen aus den Städten und aus dem Unterland ihren Lebensmittelpunkt nun sogar ganz oder teilweise in die Berg- oder Tourismusregionen verlagern würden. Das mag in Einzelfällen wohl zutreffen, dürfte aber für die Gesamtbevölkerung kaum repräsentativ sein. Diesen Eindruck bestätigen mehrere Makler und Bewirtschafter vor Ort: «Es wäre völlig falsch zu glauben, es käme im Zuge der Pandemie quasi zu einer Völkerwandung von Zürich in Richtung Chur und Tourismusregionen», sagt zum Beispiel Alfred Conrad von der Immobilientreuhand-Firma Conrad + Magnin in Chur. Der erfahrene Treuhänder beobachtet eher eine Verlagerung von Chur weg in die umliegenden Gemeinden. Es zeichne sich zum Beispiel ein Trend in Richtung Ems, Domleschg, Zizers, Trimmis, Rhäzüns oder Bonaduz ab. Kaufobjekte und überhaupt Wohnraum seien aber auch in der anderen Richtung begehrt, etwa in Maienfeld. Beim Wohnstandort suchen somit viele Leute nach einem Kompromiss zwischen Wohn­standorten, die etwas mehr Ruhe und Privatsphäre versprechen, und Lagen, die dennoch gut an die Verkehrsachsen und sonstige Infrastruktur angebunden sind. 

Kleine und mittlere Zentren im Aufschwung

«Gesucht sind zum Beispiel vergleichsweise preiswerte Kaufangebote in den kleineren und mittleren Zentren oder teils sogar in Richtung Berge», stellt Hervé Froidveaux vom Beratungsunternehmen Wüest Partner in Genf fest. Da auch im Raum Genf und im ganzen Wirtschaftsraum rund um den Lac Léman das Leben und Arbeiten im Homeoffice stark an Bedeutung gewonnen hat, sind immer mehr Menschen bereit, in grösseren Entfernungen zu den Arbeits- und Wirtschaftszentren zu wohnen. Im Kanton Jura könnte dies zu einer zusätzlichen Nachfrage führen (Erreichbarkeit in Richtung Basel), dasselbe gilt für die Region rund um Murten und den Murtensee (gute Anbindung in Richtung Bern). Froidevaux geht davon aus, dass sich dieser Trend auch nächstes Jahr noch fortsetzen wird. Daraus folgt, dass kleinere und mittelgrosse Städte mit neuen Impulsen rechnen können.

Vieles hängt zudem davon ab, ob und inwiefern die Pandemie das Angebot an Arbeitsplätzen verändern wird. Zahlen der ZKB zeigen zum Beispiel, dass typische lokale Versorger und Dienstleister tendenziell profitieren. Wenn der Bewegungsradius der Menschen enger wird und sie nicht mehr an fünf Tagen die Woche in die Zentren pendeln, verändert dies einiges. Plötzlich verzeichnen Take-aways im Dorf bzw. Wohnquartier, der lokale Coiffeur, Optiker, Bäcker oder Metzger steigende Umsätze. Die Passantenfrequenzen haben sich von der Stadt in die Wohnquartiere und sogar Dörfer verlagert. Die ZKB-Ökonomin Ursina Kubli hält dazu fest: «So stimmt die oft zitierte These, wonach Zentralität vor Krisen schützt, aktuell nicht. Solange die Leute mehr zuhause sind und der Bewegungsradius kleiner ist, profitiert das lokale Gewerbe.»